IST DAS KUNST ODER KANN DAS WEG? - Besuch der Hamburger Kunsthalle

 

   S.Polke, o.T., 1995, manipulierte Kopie

Versucht man mit Schülern einen Diskurs über zeitgenössische Kunst zu führen, so erlebt man in der Regel eine emotional gesteuerte Blockade: Ihre Kunst- und Schönheitsdefinitionen sind überwiegend selbstbezogen und fremde Ansichten werden mindestens in Frage gestellt – wenn nicht gar brüsk abgelehnt. Angesichts einer disparaten Entwicklung von Kunst und Alltag erscheint dies nicht ungewöhnlich, jedoch muss als unverständlich gelten, dass die Mehrzahl der Lernenden einen Kunstbegriff pflegt, der Kunst von handwerklichem Können ableitet. So wird man im Gespräch immer wieder auf die als Mantra fungierenden Litaneien eines Schönheitsideals gestoßen, die dem Verständnis zeitgenössischer Kunst entgegenzustehen scheinen: „Das finde ich nicht schön!“, „Das kann doch jeder!“ oder „Das soll Kunst sein?“ sind dabei emotional-eruptive Äußerungen, die als sprachliches Trommelfeuer aus den Schützengräben der Verunsicherung abgeschossen werden. Gründe für diese egozentrische Ablehnung („Das kann doch jeder – also auch ich!“) gibt es zahlreiche, doch zerstörerischer Bewertungswahn auf Seiten der Schule und daraus zwangsweise resultierende Mutlosigkeit auf Seiten der Schüler, stehen an vorderster Front und lassen künstlerische Innovation und Akzeptanz von vorne herein im Keim ersticken. So wundert es nicht, dass vermeintlich Missglücktes und Unverstandenes lediglich als Irrweg wahrgenommen und nachhaltig abgelehnt wird, ohne auf innere Substanz hin untersucht zu werden.

 

Galerie der Gegenwart, Hamburger Kunsthalle

Der Besuch der Klasse 9Ra in der Galerie der Gegenwart der renommierten Hamburger Kunsthalle am 08.02.2018 verlief aus diesen Gründen zum Teil paradigmatisch. Die Sehgewohnheiten zahlreicher, noch nicht sensibilisierter  Schüler sind durch die Ästhetik des Konsums ohnehin einseitig geprägt und durch das schulische Unvermögen mit der Innovation umzugehen, zusätzlich gestört. Doch das künstlerische Schaffen der Gegenwart entsteht nicht als Traditionsverlängerung eines überholten Schönheitsbegriffs, sondern primär als Versuch, den gesellschaftlichen Diskurs provokativ zu führen. Spätestens seit der Erneuerung der Kunst in den 1960er Jahren durch Künstler wie Polke und Richter werden wir vehement auf die Bedeutung des Banalen und vermeintlich Hässlichen und auf jeden Fall bis dato Missachteten verwiesen. Dabei geht es den Protagonisten der Kunstszene darum, unsere Sehgewohnheiten zu hinterfragen und uns zu irritieren. Vieles bleibt dabei im Vagen und lässt großen Interpretationsspielraum zu.

Gerade in einer bildgewaltigen Zeit, in der Informationen gezielt verfälscht werden, um unser Bild von der Welt zu beeinflussen, kann die Kunst – jenseits des s.g. Schönen – eine aufklärerische Rolle spielen, die uns mittels ihrer kritischen Ikonografie den Blick hinter die vermeintlich klaren, aber häufig geschönten Oberflächen öffnet. Die Kunsterziehung sollte deshalb spätestens in der zweiten Hälfte der Sekundarstufe I dem im Politik- und Religionsunterricht praktizierten kritischen Sehen folgen, um das bei Lernenden grundsätzlich vorhandene, aber künstlich unterdrückte Gespür für innovative Kunst zu fördern!

Die in Hamburg ausgestellten Werke Sigmar Polkes, Gerhard Richters, Georg Baselitz‘, Neo Rauchs oder Wolfgang Mattheuers zeigen einen aussagekräftigen Querschnitt durch kritische Gegenwelten zum selbstinszenierten Schönheitsbild von Individuum und Gesellschaft unseres Zeitalters. Es sind hilfreiche Instrumente der Wahrnehmungsschulung, deren Nutzen weit über die Kunstszene hinausreicht. Sowohl Vertreter der Bundesrepublik wie Polke und Richter, als auch solche der DDR wie Mattheuer, werden dabei präsentiert. Vor allem Polke ist es dabei immer gelungen, dem deutschen Volk einen Spiegel vors Gesicht zu halten, um die Irrwege und Verleugnungsstrategien seiner Spießbürgerlichkeit offenzulegen. Dass ihn und seine kritische Ironie kaum einer verstanden hat, liegt auch an dem Verharren in überholten Kunst- und Schönheitsbegriffen, wie sie bis heute von der Schule konserviert werden.

Ausstellungsansicht mit Werken von G. Baselitz

Erst im Wechselspiel künstlerischer und konsumorientierter Bildwelten kann ein kritisches Bewusstsein bei Lernenden entstehen, welches hilft, die Dinge zu sehen, wie sie sind. Der Besuch der Hamburger Kunsthalle soll als Teil des unterrichtlichen Weges zu einer kritischen Sehkompetenz verstanden werden und stellt einen wichtigen Baustein des Lernens dar. Deshalb bedarf es weiterhin einer stetig wachsenden und gewinnbringenden Konfrontation mit zeitgenössischer Kunst, die das Auge am Original, im Museum, zu öffnen und zu schulen hilft.

Text und Fotos: Dr. Joest Leopold

 

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