"...weil sie böse sind." - Besuch der Austellung "PROOF" in den Hamburger Deichtorhallen

Bericht von Dr. Joest Leopold

Foto: Joest Leopold

Verletzungen der Menschlichkeit begleiten unser Dasein seit den Anfängen der Kulturentfaltung. Die Faszination, die von einer Macht ausgeht, die anderen Menschen mit Gewalt begegnet, ist im Laufe der Zeit Teil unseres alltäglichen Lebens geworden. Sie zieht uns in ihren martialischen Bann und besticht in den Medien mit einem ästhetischen Glanz, der heller scheint als das fragile Wunder der Nächstenliebe…

(R. Longo, o.T. Russische SU-27, 2014, Kohle auf Papier, 163x305 cm)

(R. Longo, o.T. Amerikanische F-22, 2016, Kohle auf Papier, 178x305 cm)

Foto: Joest Leopold

Nach Rousseau, aus dessen Feder der Titelvers stammt, ist der Mensch von Natur aus gut und die Gesellschaft die Wurzel des Bösen. Mit seiner philosophischen Anthropologie verweist Rousseau auf die zu allen Zeiten existente Bedrohung schwächerer Gruppen durch Stärkere und stellt damit das Gemeinwesen des Menschen in Frage. Hinter dieser Erkenntnis entdecken wir eine vorromantische Ideologiekritik, welche uns bis heute mahnt, das Diktat der Macht nicht zu missbrauchen. Die nicht nur im christlich-abendländischen Denken verankerte menschliche Hybris bedient sich aber einer Ethnozentrik, die das Eigene glorifiziert und das Andere  verdammt und häufig vernichten will. Dieses Verhalten ist dabei zu einer typischen Konstante im interkulturellen Dialog geworden. Weltweit verbreiten staatliche Gemeinwesen und transnationale, bzw. religiöse Gemeinschaften Terror und Krieg gegen vermeintlich falsch Denkende oder s.g. Ungläubige und verstärken die Angst zwischen den Kulturen, statt sie zu überwinden…

Der Krieg in Syrien, der in diesen Tagen erneut ins Zentrum unserer Wahrnehmung gelangt ist, kann dabei als beredtes Zeugnis dienen. Wenn Robert Longo ein militärisches Zielfoto, das eine Raketenexplosion im Fadenkreuz zeigt, auf ein gigantisches Maß vergrößert, dann  stellt er den Betrachtern die Frage nach dem Wert des zerstörten Lebens, das hier durch die immense Vergrößerung des Treffers gar nicht mehr wahrgenommen werden kann. Es verblasst hinter dem Blendwerk der Tötungsmaschinerie.

(R. Longo, o.T. Syrien, Kohle auf Papier)

Foto: Joest Leopold

Foto: Jana Bork

Auf den Spuren der menschlichen Konflikte besuchte der Politikkurs der neunten Realschulklassen an der Peter-Ustinov-Schule am 12. April  eine Ausstellung in den Hamburger Deichtorhallen, in der drei bedeutende Künstler präsentiert wurden, die sich jeweils in ihrer Zeit mit der ideologisch bedingten Gewalt auseinandergesetzt haben. Die hochkarätige Schau stellt den amerikanischen Kaiserring-Preisträger Robert Longo (*1953) in einen raum- und zeitübergreifenden Kontext mit dem spanischen Maler und Radierer Francisco Goya (1746-1828) und dem russischen Regisseur Sergei Eisenstein (1898-1948). Allen Künstlern gemeinsam ist die Verarbeitung komplexer politischer Verwerfungen wie Revolutionen und Terrorismus, die großes Leid über zahlreiche Völker gebracht haben. Goyas Aquatinta-Radierungen, die in einem Kabinett in der Mitte der Ausstellungshalle gezeigt wurden, eröffneten den Reigen der Gewaltdarstellungen in historischer Hinsicht, verstörten aber trotz ihres Alters mit geradezu gespenstischer Schreckenszeichnung in den Gesichtern der porträtierten Opfer von staatlicher Gewalt besonders intensiv.

Die Lernenden des Politikunterrichts sollten durch die Direktbegegnung mit den zeitlosen Kunstwerken für die Zerbrechlichkeit der menschlichen Existenz sensibilisiert werden und angenommene Sehgewohnheiten hinterfragen. Longo, der mit überdimensionalen Kohlezeichnungen von Ikonen der Ideologie, aus der Ferne betrachtet einen Fotorealismus erzeugt, enttarnt den Glanz des Bösen bei näherer Inaugenscheinnahme und zerlegt die Hochglanzoptik, an die sich unsere Augen gewöhnt haben, in ein substanzloses Muster von Strichen, vergleichbar den Pixeln, aus denen sich unsere digitalen Bildwelten zusammensetzen. Die scheinbare Menschenmenge an der muslimischen Kaaba in Mekka entpuppt sich in der Folge als amorphe Masse, von der nichts Menschliches mehr ausgeht, genau wie sich die Steine der jüdischen Klagemauer in Jerusalem aufzulösen scheinen und das Konfliktpotenzial des Ortes anprangern, so dass rein gar nichts die zahlreichen Todesopfer im Namen der religiösen Ideologie rechtfertigt. In der Dekonstruktion des bösen Scheins liegt der Schlüssel für die Konstruktion des Guten. Es gilt, diese Erkenntnis in die erzieherische Tätigkeit zu übertragen, um das Zusammenleben der Menschen endlich aus der Klammer der Desintegration zu lösen.

(R. Longo, o.T. Kaaba in Mekka, 2010, Kohle auf Papier, 422x640 cm)

Foto: Jana Bork

Im hinteren Teil der Ausstellungshalle konnten die Schülerinnen und Schüler mehrere bekannte Filme des Regisseurs S. Eisenstein in slow motion sehen. Die Kuratoren der Schau hatten Schlüsselszenen aus Filmen wie „Panzerkreuzer Potemkin“ und „Iwan der Schreckliche“ auf 1% der eigentlichen Geschwindigkeit reduziert, so dass die Sequenzen in ihre Einzelbilder zerlegt wurden und in den genannten Fällen das Martialische und Brutale in einer erschreckenden Langsamkeit als bedrückende Gewalt wahrgenommen werden konnte.

(S. Eisenstein, Filmstill, Panzerkreuzer Potemkin, 1925)

Foto: Joest Leopold

In dem russischen Stummfilm „Panzerkreuzer Potemkin“ aus dem Jahr 1925 geht es um die Meuterei der zaristischen Matrosen Ende des Ersten Weltkrieges. Das Pathos im Film soll als revolutionär und befreiend verstanden werden, doch der Mensch als Soldat verliert hier seine Humanitas, angesichts der gigantischen Kriegsmaschinerie der Flotten und anderer Waffensysteme – entworfen, um andere Menschen zu unterdrücken und zu vernichten. Dabei ist es letztlich uninteressant, ob der Unrechtsstaat oder der Aufständische vernichtet wird. Botschaften, die von solchen Bildern ausgehen, sollten in einen Pazifismus münden, der jedoch durch die starren Ideologien der Menschheit unerreichbar zu bleiben scheint. So stehen sich nach wie vor Systeme, geführt von Menschen, die sich diesen Systemen unterordnen, unversöhnlich gegenüber. Es sind diese Aussagen, mit denen sich der Gerechtigkeitssinn unserer Lernenden auseinanderzusetzen hat. Die gesellschaftlichen Entwicklungen nicht einfach kommentarlos und unkritisch hinnehmen, sondern mittels der kognitiven und emotionalen Intelligenz das Böse in der Sache erkennen und im Sinne einer freiheitlich-demokratischen Weltordnung verhindern helfen, heißt also ein Ziel schulischer Bildung, dem wir an der Oberschule Hude auch außerunterrichtlich nachgehen…

Foto: Joest Leopold

Der Museumsbesuch steht deshalb im Zusammenhang mit der Demokratieschulung und soll dem Zweck der Emanzipation des freien, aber sozialen Denkens dienen und weitere kognitive und soziale Kernkompetenzen wie Wissensbildung, Werteaufbau und Gewaltprävention stärken helfen.

Die Inaugenscheinnahme der Bilder vor Ort, also das intensive und nahe Betrachten entspricht  der Vertiefung und Ergründung der Materie und kann so zur analytischen Erkenntnis führen, dass das Böse lediglich konstruiert und aus Partikeln zusammengefügt ist - zwar zu einem scheinbaren Glanzstück – aber dass es deshalb auch dekonstruierbar ist. Diese, vor allem Longos Bildern immanente Aussage, hilft, den Blick mutig in die Zukunft zu richten und weiterhin den mühsamen Weg der Friedenserziehung einzuschlagen. Im Rousseau’schen Sinn gilt es dabei, in der Schule ein Netz für das liebevolle  Miteinander aufzubauen und so zu verknüpfen, dass die vermeintlich schlechte Gesellschaft zum positiven Konstrukt aus gleichberechtigten Individuen avanciert. In einer solchen mitmenschlichen und hoffentlich ideologiefreien Gesellschaft kann dann nur noch gelten:

„Die Freiheit des Menschen liegt nicht darin, dass er tun kann, was er will, sondern dass er nicht tun muss, was er nicht will.“ (J.J.Rousseau)

Text: Dr. Joest Leopold

 

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